Joachim Diercks dürfte den meisten Menschen, die etwas mit HR zu tun haben, bekannt sein. Anfang 2000 gründete Jo mit drei Kommilitonen Cyquest, mit Sitz in Hamburg. Seitdem beschäftigt sich Jo, unter anderem im RECRUTAINMENT Blog, mit der spielerischen Kombination von Eignungsdiagnostik, Employer Branding und (Berufs-/ Studien-)Orientierung. Was es mit RECRUTAINMENT auf sich hat, wie Serious Games im HR sich von traditionellen Spielen unterscheidet und wie Gamification gegen den Fachkräftemangel hilft, erfahrt Ihr in folgendem Interview. Wir wünschen Euch viel Spaß und Inspiration beim Lesen!
Lieber Jo, stell Dich doch unseren Leser:innen bitte einmal kurz vor! Wie sieht Dein beruflicher Werdegang aus und wie bist Du zur Arbeit mit Serious Games im Bereich HR und Recruiting gekommen?
Oha, wie viel Zeit habt Ihr …? 😉 Nun, ich bin Geschäftsführer von CYQUEST und habe das Unternehmen auch mitgegründet. Und das ist auch schon eine ganze Weile her. Nach dem Examen 1998 war ich noch kurz bei Bertelsmann in London und habe mich dann mit drei ehem. Kommilitonen in das Abenteuer – wie es damals hieß – New Economy gestürzt. Und das mache ich seitdem, also im Prinzip seit fast einem Vierteljahrhundert.
Studiert habe ich BWL mit den Schwerpunkten Marketing und Personal und zudem einer großen Portion Wirtschaft-, Kommunikations- und Konsumentenpsychologie. Von daher ist das, was wir bei CYQUEST machen, eigentlich gar nicht abwegig: Wir entwickeln Software, die dem Zweck dient, dass das gegenseitige Zueinanderfinden zwischen passenden Arbeitgebern und passenden MitarbeiterInnen möglichst gut gelingt. Das heißt, wir bauen eignungsdiagnostische und psychometrische Verfahren, die zu Auswahl- und Orientierungszwecken eingesetzt wird. Da steckt also viel Psychologie drin. Da stecken aber auch viel Employer Branding und Personalmarketing drin, weil Auswahl eben auch viel mit Selbstauswahl und Candidate Experience zu tun hat.
Recrutainment, definiert als Gamification in der Personalgewinnung, kann hier sehr elegant das Sinnvolle mit dem Nützlichen verbinden, sprich: Auswahlqualität kombinieren mit hoher Akzeptanz.
Kannst Du uns erklären, was genau unter Serious Games zu verstehen ist und wie sie sich von traditionellen Spielen unterscheiden?
Ich würde den Begriffsraum etwas weiter aufziehen und von Gamification sprechen. Serious Games sind davon nämlich nur eine Form. Gamification ist definiert als Einsatz von spielerischen Methoden und Instrumenten in einem Kontext, der selbst kein Spiel ist. Recrutainment ist insofern der Einsatz von Gamification im Kontext der Personalgewinnung. Und die ist ja selbst kein Spiel. Es gibt eine ganze Palette von Recrutainment-Ansätzen, die ich gemeinsam mit meinem Kollegen Dr. Kristof Kupka und dem Hamburger Wirtschaftspsychologie-Professor Lars Jansen in unserem Buch „Recrutainment“ beschrieben habe:
Tests, die in einen spielerischen Rahmen eingepackt werden („Gamified Assessment“) und Spiele, die zu Testzwecken eingesetzt werden („Game-based Assessment“) dienen hierbei tatsächlich der Bewertung von KandidatInnen und damit der Auswahlentscheidung der Unternehmen. Job-Matcher und Recruiting-Games hingegen sind als Self-Assessments eher dafür gedacht, die Orientierung bzw. Selbstauswahl von potenziellen Bewerbenden zu verbessern. Hier geht es also um „Selbst“-Auswahl …
„Serious“ ist das im Grunde alles, weil es ja nicht der Zerstreuung oder Unterhaltung dient, sondern letztlich der Verbesserung der beruflichen Orientierung bzw. Personalauswahl. Das ist auch der entscheidende Unterschied zu eigentlichen Spielen. Serious heißt aber keineswegs, dass es langweilig sein muss oder keinen Spaß macht, ganz im Gegenteil.
In welchen HR-Bereichen siehst Du das größte Potenzial für Serious Games? Und kannst Du uns direkt einige Beispiele für erfolgreiche Umsetzungen nennen?
Ein sehr naheliegender Bereich, in dem auch schon viel mit Serious Games gearbeitet wird, ist die Personalentwicklung, vor allem im Schulungsbereich.
Wir wenden uns mit unseren Applikationen vor allem dem Bereich der Personalgewinnung zu.
Hier können spielerische Job-Matching Applikation etwa jungen Menschen helfen, den am besten zu ihnen passenden Ausbildungsberuf zu identifizieren. Das funktioniert enorm gut, wie etliche Beispiele – Liebherr, EDEKA, Deutsche Bahn, Sana, Allianz etc. – zeigen. Auch für seniorere Zielgruppen klappt das super. Das zeigen etwa der jüngst für den Deutschen Fachkräftepreis vom BMAS nominierte Job-Kompass der Deutschen Bahn – Stichwort: Berufsorientierung für Quereinsteiger – oder der EY Job-Matcher, mit dem man herausfinden kann, welcher Bereich in der Beratung am besten zu einem passt.
Recruiting Games, oft auch als virtuelle Praktika oder Berufsorientierungsspiele bezeichnet, lassen einen spielerisch in verschiedene Berufsbilder reinschnuppern. Hier heißt sinngemäß: „Nicht anschauen, sondern machen!“
Und auch die Auswahlinstrumente der Unternehmen können „recrutaint“ werden, etwa dergestalt, dass Testverfahren so mit Arbeitgeberinformation „eingepackt“ werden, dass ein solches Online-Assessment im Grunde zu einem gegenseitigen Kennenlerntermin wird: KandidatIn wird getestet, lernt aber auch den Arbeitgeber durch die enthaltenen Informationen besser kennen. Auch für diese Form des „Gamified Assessment“ gibt es tolle Beispiele – etwa von der Allianz („Online Allianz Campus“), EON („EON Phasenprüfer“) oder der Targobank („Targobank Tour“).
Ein Einsatzbereich, der gerade dabei ist, sich abzuzeichnen und den ich sehr interessant finde, ist das Onboarding. Wir haben auf der #HREdge24 vor ein paar Wochen den Teilnehmenden ermöglicht, sich durch Escape Games mit typischen Onboarding-Inhalten zu beschäftigen. Dieses Beispiel zeigt auch, dass Recrutainment bzw. Gamification im HR-Kontext auch offline funktionieren kann.
Wie können Unternehmen Serious Games strategisch in ihre HR- und Employer Branding-Strategien integrieren? Gibt es bestimmte Schritte, die Du empfehlen würdest?
Zunächst ist mir sehr wichtig zu betonen, dass Gamification kein Selbstzweck ist. „Nur lustig“ reicht nicht. Es muss immer auf ein konkretes Ziel einzahlen. Im Falle von Job-Matching-Tools oder Berufsorientierungsspielen wäre das entscheidende Kriterium etwa, dass diese Tools die Berufsorientierung verbessern, also potenziellen BewerberInnen helfen zu entscheiden, ob sie sich bewerben sollten und wenn ja worauf. Bei spielerisch gehaltenen Auswahltests darf die Gamification nicht ablenken, sondern muss etwa dem Zweck dienen, darüber mehr über den Arbeitgeber zu lernen.
Vor diesem Hintergrund auch die Antwort auf Deine Frage: Es kommt auf den Anforderungsbezug an. Wenn in einem spielerischen Setting, das abgebildet wird, worum es in dem jeweiligen Job, der jeweiligen Tätigkeit, dem jeweiligen Unternehmen auch wirklich geht und worauf es dabei ankommt, dann kann eigentlich nicht mehr viel schiefgehen. Man spricht in diesem Zusammenhang von „Klarheit der Erwartungen“.
Welche Herausforderungen ergeben sich für Arbeitgeber bei der Entwicklung und Umsetzung von Serious Games? Wie können diese gegebenenfalls überwunden werden?
Oftmals trauen sich Unternehmen nicht, die Dinge so zu zeigen, wie sie wirklich sind und versuchen, die Dinge vermeintlich zu „beschönigen“. Ich sage bewusst „vermeintlich“, weil hier oft gemutmaßt wird, was die Zielgruppe denn eigentlich gut findet und was nicht. Ein Beispiel: Wenn man in einem Recruiting Game die Information unterschlägt, dass die berufliche Tätigkeit in einem Großraumbüro stattfindet, weil man befürchtet, dass User Großraumbüros nicht mögen und sich dann „ja keiner mehr bewirbt“, dann ist das genau der falsche Weg. Man muss die Dinge schon so zeigen, wie sie sind, denn sonst lockt man ggf. den einen oder anderen an, aber der ist dann auch schnell wieder weg, weil die Realität ihm nicht schmeckt.
Insofern kommt es bei Serious Games vor allem auf Ehrlichkeit an. Und das erfordert von den Unternehmen zuweilen durchaus Mut. Und das bedeutet auch, dass die in den Unternehmen für solche Tools Verantwortlichen den einen oder anderen Widerstand überwinden müssen, denn um das Argument „das können wir so nicht zeigen“ zu überwinden, braucht man gute Argumente und oft auch Beharrlichkeit.
By the way: Großraumbüros finden gar nicht alle schlecht … 😉
Du hast kürzlich mit Tim Verhoeven und Marcel Rütten einen Videocast zum Thema Recruiting-Analytics veröffentlicht. Erfolgsmessung ist mittlerweile ein wichtiger Bestandteil im HR. Kannst Du uns ein paar Insights geben, wie Unternehmen den Erfolg ihrer Serious Game-Initiativen messen können? Welche Kennzahlen oder Indikatoren sind in diesem Zusammenhang aussagekräftig?
Vergleichsweise einfach sind noch die klassischen Tracking-Metriken wie Zugriffe, Durchspielrate, Weiterempfehlung etc. wenngleich auch diese von Anfang an sorgfältig mit in die Konzeption einbezogen werden müssen.
Wirklich spannend sind dann aber inhaltliche Kriterien: Beispielsweise könnte man sich in einem Ausbildungs-Matching Tool einmal anschauen, wie hoch die Passung zu den verschiedenen angebotenen Ausbildungsberufen eigentlich so ausfällt und ob sich das über die Jahre vielleicht verändert.
Die abschließende „Gretchen-Frage“ ist natürlich nachher immer, in welchem Umfang die Maßnahme auf das beabsichtigte Ziel eingezahlt hat. Bei Matching-Tools oder Recruiting Games wäre das z. B. inwieweit der Ausbildungsabbruch zurückgegangen ist, o. Ä. Bei Gamified Assessments könnte eine interessante Metrik sein, wie die Akzeptanz des Auswahlverfahrens sich verbessert hat oder die Klarheit der Erwartungen in Bezug auf den Arbeitgeber und die Tätigkeit gestiegen ist. Diese Analysen sind aber oft schon „Analytics-Hochreck“, weil solche Kriteriumsvalidierungen nicht mal so eben aus Google Analytics herauszulesen sind. Es gibt dazu aber sehr optimistisch stimmende Forschung.
Wie siehst Du die Zukunft von Serious Games im HR? Gibt es bestimmte Trends oder Entwicklungen, die Du als besonders relevant erachtest?
Ja, vor dem Hintergrund der angesprochenen Forschungsbefunde bestätigt sich die oben ja auch schon genannte Bedeutung des realistischen Anforderungsbezugs. Gamification ist dann hilfreich, wenn sie etwa potenziellen Kandidaten mehr Klarheit darüber verschafft, wie es wirklich ist, bei einem Unternehmen zu arbeiten oder eine Tätigkeit auszuüben. Eine Alien- oder Fantasygeschichte mag der eine oder andere vielleicht unterhaltsam finden. Aber sie hilft am Ende nicht, das eigentliche Ziel zu erreichen.
Basierend auf Deiner langjährigen Erfahrung: Was sind die „Dos and Don'ts“ für Unternehmen, die mit Serious Games im Bereich HR, Recruiting oder Employer Branding beginnen möchten?
Formuliert das Ziel (z. B. bessere Berufsorientierung oder höhere Akzeptanz des Auswahlverfahrens), benennt ehrlich die Anforderungen und Begebenheiten und bildet diese dann ab. Der Leitgedanke: „Realistic Job Preview“.
Danke für die detaillierten Insights, lieber Jo! Wir sind schon gespannt auf die weitere Entwicklung von Serious Games im HR und wünschen Cyquest auch weiterhin viel Erfolg!
Das Gespräch führte: Dominik Bernauer
Dominik Bernauer ist Berater, Autor, Blogger und Ghostwriter. Seine Beratung erstreckt sich über diverse Bereiche wie, Employer Branding, HR, New Work, Digitalisierung, Medien, Marketing und Technologie. Dominik unterstützt Unternehmen und Organisationen dabei, sich in diesen komplexen Feldern zurechtzufinden und ihre Ziele zu erreichen. |
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